Gestern nach meiner Nachmittagslektion Englisch im Youth Center war ich zum ersten Mal so richtig frustriert. Ich hatte die ganze Stunde damit verbracht, das banale Thema des Vortrags und schon des Tags davor zu repetieren. (Konjugation und Verneinung des Verbs "like", das genau gleich wie jedes andere normale Verb funktioniert) Und doch hatte ich am Ende der Stunde das Gefuehl, die Kinder haetten noch immer ueberhaupt nichts verstanden. An diesem Nachmittag waren es ueber 25 SchuelerInnen, niemand hoerte zu, alle waren mit etwas anderem als dem Unterricht beschaeftigt, waren laut und unkonzentriert. Wenn ich dann ein Kind aufgerufen habe, hatte es keine Ahnung worum es ging, repetierte kurz die Antwort, die ich ihm vorsagte, ohne deren Inhalt auch nur ansatzweise zu verstehen und widmete sich wieder anderem. Oder - das beste: Als ich Pietra fragte: " Which colour does Reasay like?", da sprang Dany ungefragt auf und rief:" I doesn't like apple!" Mit der Zeit wurde ich richtig wuetend und fragte mich, warum die Kinder so respektlos waren und so wenig Interesse zeigten. Schliesslich wollte ich ihnen nur helfen und ich gab mir wirklich Muehe dabei!
Nach der Stunde kam Chhavorn zu mir (eine der Lehrerinnen), nachdem sie den Kindern zuerst gruendlich die Leviten gelesen hatte und ihnen beibrachte, dass man sich so einer Lehrperson gegenueber nicht zu verhalten hatte. Danach erklaerte sie mir, dass die Funktion der Lehrpersonen hier im Youth Center viel mehr als nur eine didaktische oder paedagogische sei. Zu Hause haetten viele der Kinder niemanden, der ihnen beibringt, wie man sich gegenueber Respektspersonen und in der Oeffentlichkeit generell zu verhalten hat.
Chhavorn erzaehlte mir von der 12-jaehrigen Peinuth, deren Mutter vor 7 Jahren an AIDS gestorben war und deren Vater ebenfalls HIV-infiziert ist. Peinuth lebt nun zusammen mit dem Vater und ihrem Bruder, der drogenabhaengig ist. Wer in dieser Familie hat da die Zeit, dem Kind Verhaltensnormen beizubringen? Dann erzaehlte Chhavorn mir von Reasmey (ebenfalls 12 Jahre alt), deren Eltern all ihr Geld fuer die kranke Grossmutter ausgeben musste. Irgendwann waren sie sogar gezwungen, das Haus zu verkaufen und leben seitdem in einer gemieteten duerftigen Unterkunft. Inzwischen ist die Grossmutter tot - sie haben sie verloren genauso wie ihr Haus und das Geld. Auch in dieser Situation haben die Eltern wohl andere Sorgen, als Reasmey und deren drei Bruedern ein angemessenes Benehmen in der Oeffentlichkeit beizubringen. Es hat schlichtweg keine Prioritaet. Des Weiteren sprachen Chhavorn und ich auch ueber Reasey (Reasmeys Freundin), deren Mutter mit einem Freund des Vaters durchgebrannt ist und sie seitdem allen erzaehlt, ihre Mutter sei gestorben. (Offensichtlich kann Reasmay die Situation bis jetzt nicht akzeptieren). Sie lebt nun also mit ihrem Vater, dem es alles andere als gut geht und ihren 2 drogenabhaengigen Bruedern. Auch gibt es da zum Beispiel noch die Geschwister Sineth (9 Jahre) und Tierah (7 Jahre), deren Vater ein Trinker ist und die Mutter regelmaessig schlaegt. Oder Lisa (11 Jahre), deren Mutter eine Spielerin ist, und regelmaessig das verdiente Geld des Vaters verjagt.
Nach diesem Gespraech fuehlte ich nur noch Mitleid fuer diese Kinder. Natuerlich war es in einer gewoehnlichen Schule kein Problem, den SchueleInnen innerhalb von 20 Minuten die Konjugation des Verbs "like" beizubringen - aber nicht in diesem Kontext. Die Kinder leide alle unter einem Aufmerksamkeitsdefizit. Zu Hause haben sie niemanden, der fuer sie da ist, der ihnen Annerkennung und Zuneigung schenkt, der ihnen zeigt, was richtig und was falsch ist oder der ihnen den Wert von Bildung mitgibt. Auch motiviert sie niemand, sich in der Schule Muehe zu geben und aufzupassen, da ihnen dies spaeter von Nutzen sein wird. So wichtig Bildung auch sein mag, ist mir seit gestern bewusst, dass sie im Youth Center wohl definitiv nicht die tragende Komponente ist. Viel mehr geht es darum, den Kindern so etwas wie eine "Familien-Atmosphaere" zu geben; ihnen ein Umfeld bieten zu koennen, in dem sie sich wohl und geborgen fuehlen.
Und als ich dann nach Schulschluss mit dem Fahrrad nach Hause fuhr, und ich wieder zahlreichen Kindern jeglichen Alters begegenete, die mir zuwinkten, mich anstrahlten und mir "Hello! Hello!" zuriefen, da waeren mir wirklich fast die Traenen gekommen. Trotz ihrem Hintergrund sind sie doch alle so froehlich und lieb und meinen es nur gut. Sie koennen wirklich ueberhaupt nichts fuer den Kontext, in den sie hineingeboren wurden und es ist letztendlich schlichtweg bewundernswert, wie die kleinen Menschen ihre Lebenssituation schon jetzt wie die Grossen meistern!
Anna Bugmann
Anna Bugmann unterstützte von Januar 2014 bis März 2014 unser Schulbildungsprojekt in Kambodscha als freiwillige Englischlehrerin.