«Eigentlich seltsam, nach Uganda eingeladen zu werden, um einen Trainingsworkshop zu lösungsorientierter Erinnerungsarbeit zu moderieren - nach Uganda, dem Land, das als Wiege der Erinnerungsarbeit im Kontext von HIV und Aids in Afrika gilt. In den 90er Jahren hatte NACWOLA, die National Community of Women living with HIV/AIDS, mit der Arbeit mit Memory Books begonnen. Die Frauen von NACWOLA, selbst HIV-positiv und damals mit der Prognose des nahenden Todes konfrontiert, schrieben das Erinnerungsbuch für ihre Kinder als Hinterlassenschaft. Mit dem Schreiben des Buches und dem darüber Erzählen verbesserte sich auch die Kommunikation innerhalb der Familie und die Beziehung Mutter-Kind. Die guten Erfahrungen mit Memory Books in Uganda wurden in Fachkreisen bekannt und der Ansatz vor allem in Südafrika aufgegriffen und weiterentwickelt und kam über unsere Südpartner in die Schweiz.
Aidsfocus.ch hat von den Frauen von NACWOLA gelernt, etwa von Annet Biryetega, die 2005 auf Einladung von aidsfocus.ch in der Schweiz weilte und an der Fachtagung zu Memory Work ihre Kenntnisse zum Kontext und Praxis von Memory Buch-Schreiben mit uns teilte (siehe MMS Bulletin Nr. 97). Weitere Quellen, die aidsfocus.ch in der Erarbeitung des toolkits „Treasure memories“ zu lösungsorientierter Erinnerungsarbeit inspirierten, waren Erfahrungen in Südafrika und Haiti mit Memory Books oder Kenia und der Schweiz mit Body Maps sowie die Youth2Youth-Trainings zu lösungsorientierten Ansätzen von terre des hommes schweiz im südlichen Afrika.
Der Workshop
Der Training-of-Trainers Workshop zu lösungsorientierter Erinnerungsarbeit vom 25. – 30. September 2011 in Masaka, Uganda, war von CO-OPERAID organisiert und vom Katholischen Frauenbund, der Aids-Hilfe Schweiz und aidsfocus.ch finanziell unterstützt worden. Er entsprang dem Wunsch von lokalen PartnerInnen, lösungsorientierte Erinnerungsarbeit zu erlernen, um dies dann in ihrer Arbeit mit lokalen Gemeinschaften umsetzen zu können. Ziel des Workshops war, selbst durch den Prozess des Memory-Book-Machens zu gehen, ein eigenes Buch zu gestalten und Methoden, Werkzeuge und die Haltung der lösungsorientierten Erinnerungsarbeit kennenzulernen. Vor allem aber war es ein grosses Anliegen, dass die Teilnehmenden die erworbenen Kenntnisse anschliessend in die Praxis umsetzen.
28 Frauen und Männer und drei Babies aus sechs lokalen Organisationen nahmen am Workshop teil: Programmverantwortliche von NGOs, freiwillige MitarbeiterInnen, wovon einige erstmals an einem Weiterbildungsworkshop teilnahmen, Frauen und Männer, die mit HIV leben und/oder die durch AIDS ihre Eltern, Ehepartner, Geschwister oder Verwandte verloren haben. Diese Heterogenität der TeilnehmerInnen, die Unterschiedlichkeit und Vielfalt an Kenntnissen und Erfahrungen, stellten eine grosse Herausforderung für die Gestaltung des Workshops dar. Gleichzeitig boten sie einen Reichtum an Erfahrungen und Ideen, aus denen wir schöpfen konnten. Allen gemeinsam war, der Wunsch und der Wille, Neues zu lernen und aktiv mitzuwirken.
Der Blick zu den Sternen
Die lösungsorientierte Erinnerungsarbeit verstärkt eine auch in der „klassischen“ Erinnerungsarbeit angelegte Qualität, nämlich die Befähigung, sich dem Leben zu stellen. Der lösungsorientierte Ansatz ist vermehrt zukunfts- und lösungsorientiert. Bildlich ausgedrückt: Der Blick nach den Sternen. Zwei Gefangene schauen durch dieselben Gitterstäbe. Der eine sieht die Sterne, der andere nur den Dreck.
Der lösungsorientierte Ansatz geht davon aus, dass jeder Mensch Stärken und Fähigkeiten hat, auf denen bei der Suche nach Lösungen aufgebaut werden kann. Ziele werden gemeinsam entwickelt, Ressourcen identifiziert und im Prozess ein neues Bewusstsein und Selbstvertrauen entwickelt, um in Richtung des gewünschten Ziels zu gehen. Diese Haltung ist auch für die Arbeit mit Erinnerungen sehr wichtig – denn jede und jeder ist Expertin und Experte des eigenen Lebenslaufs.
ExpertInnen des eigenen Lebens
Ein Schlüsselelement der Memory Books war die Übung mit den Fenstern, die Einblick in die eigene Geschichte geben. Die TeilnehmerInnen zeichneten in ihrem Buch ihr Leben in sechs Bildern. Jedes Bild gibt Einblick in ein einschneidendes Ereignis im Lebenslauf: Der Tod eines geliebten Menschen, die Prognose HIV positiv, der erste Flug nach Europa, oder der Entscheid, „offen positiv“ zu leben.
Die Autorin erzählte ihre Geschichte einem Partner, der aufmerksam zuhörte und allenfalls nachfragte. Der Partner erzählte die gehörte Geschichte wieder in einer stärkenden, ermutigenden Art und Weise, als die Geschichte einer starken Frau, die es trotz allem geschafft hat. Zum Beispiel die Geschichte von T., die nach dem Tod ihres Mannes von dessen Verwandten aus dem gemeinsamen Haus geworfen wurde und eine Weile unten durch musste, aber dank ihrem Überlebenswillen und der Ausbildung als Krankenschwester wieder Arbeit und eine Bleibe fand und sich jetzt erfolgreich für andere benachteiligte Frauen engagiert. Dies ist nicht eine Leidensgeschichte, sondern die Geschichte einer starken Frau, die nicht aufgibt.
Das Aufzeichnen und Erzählen, das aufmerksame Zuhören und Wiedererzählen, und das Hören der eigenen Geschichte mit anderen Worten sind wichtige, sich gegenseitig verstärkende Elemente im Prozess. Dies hilft den Betroffenen, die stärkenden Themen und Überlebensstrategien im eigenen Lebenslauf zu erkennen. Sie sind die ExptertInnen des eigenen Lebens.
Höhepunkte
Eine anregende Übung mit dem Lebenslauf, inspiriert vom lösungsorientiertem Ansatz, war die Übung mit den Höhepunkten. Ein Teilnehmer forderte eine Partnerin auf, eine Situation in ihrem Leben auszuwählen, in der sie besonders erfolgreich war. Er suchte nun mit „W-Fragen“ herauszufinden, wie sie es gemacht hatte: Was geschah? Wann war es? Wo war es? Wie hast du es gemacht? Was war speziell an der Situation? Welche eigenen Ressourcen waren besonders hilfreich? Gemeinsam mit den Betroffenen wurde im Gespräche konsequent versucht wird, Stärken und Ressourcen zu identifizieren, die für den Erfolg ausschlaggebend waren. Die Übung zielte darauf hin, ein neues Bewusstsein zu wecken: Statt sich von seinen Problemen herabziehen zu lassen, sich an den Sternen zu orientieren.
Erinnerungsarbeit ist immer auch zukunftsgerichtet. Das sich Erinnern dient wie der Blick in die Rückspiegel des Wagens, sich gegen vorne zu orientieren. Gladys Nalukenge brachte dieses treffende Bild in die Diskussion ein: Jedes Auto hat eine grosse Frontscheibe und kleine Rückspiegel. Unser Blick ist auf die Strasse vor uns, auf die Zukunft gerichtet, die Rückspiegel helfen der Orientierung.
Der Stammbaum
Erinnerungsarbeit ist wie ein Baum, der Erwachsenen wie Kindern ermöglicht, die eigenen Wurzeln zu entdecken und sie gleichzeitig ermutigt, zu wachsen und sich dem Leben zu stellen. Erfahrungen haben gezeigt, wie die Arbeit am Memory Book den Eltern eine Tür öffnet, um mit den Kindern zu reden, ein Testament zu schreiben, die Familiengeschichte und den Stammbaum aufzuzeichnen, Geschichten und Anekdoten zu erzählen und Pläne für die Zukunft zu machen. Im Workshop besprachen die TeilnehmerInnen die wichtigsten Elemente eines Testaments. welches nicht nur das Verteilen der materiellen Güter beinhaltete, sondern auch mögliche BetreuerInnen für die Kinder bestimmt.
Jacinta Magera, Programmverantwortliche bei NACWOLA, moderierte sehr anschaulich die Übung mit dem Stammbaum, mit welchem NACWOLA arbeitet und der im ugandischen Kontext mit polygamen Beziehungen entwickelt wurde. Die Arbeit am Stammbaum ermöglichte einen eindrücklichen Einblick in die Relevanz der vielfältigen und komplexen Beziehungen und Abhängigkeiten ugandischer Familien und Stämme.
Die Kinder gehören der Familie des Mannes an, dies wird von niemandem in Frage gestellt. Kinder und Jugendliche gewinnen ihre Identität über die Zugehörigkeit zur Familie des Mannes, eine Identität, die bei der Heirat sehr wichtig ist. Besonders nach dem Tod der Eltern sind es die einzigen Verwandten, die die Kinder haben. Jacinta erzählte, wie, während sie am Sterbebett ihres aidskranken Mannes im Spital sass, die Verwandten des Mannes die ganze Wohnung bis auf die Vorhänge ausräumten. Obwohl von den Verwandten im Stich gelassen und als HIV-positive Mutter mit vier Kindern auf sich gestellt, schärfte sie ihren Kinder immer wieder ein, sich mit den Verwandten zu vertragen: es sind die einzigen, die sie haben.
Positiv leben
Lösungsorientierte Erinnerungsarbeit ist besonders ausgerichtet auf die Stärkung des eigenen Selbst und auf das „positiv leben“ mit und trotz der Krankheit. Mit der Stärkung des Selbst mag sich das „Selbst-Stigma“ mindern und der Mut wachsen, offen zum positiven Status zu stehen. Das Selbst-Stigma ist ein wesentliches Element, das die eigene Entfaltung hemmt und auch der Reduktion von Stigmatisierung und Ausgrenzung durch andere im Wege steht. Erfahrungen in Uganda, Togo oder Haiti haben gezeigt, dass Memory Work Menschen, die mit HIV leben, hilft, offener zu werden in Bezug auf ihren Status – zuerst in der Gruppe und in der Familie, aber auch in der grösseren Gemeinschaft.
Auch in Zeiten und Gegenden, wo antiretrovirale Medikamente auch in entlegenen Gebieten Ugandas erhältlich sind und HIV-positiven Menschen ein langes Leben ermöglichen, ist die Arbeit mit den Erinnerungen nach wie vor relevant, um sich dem Leben zu stellen. Tracy zeichnete in ihrem sechsten Bild sich selbst mit offenen, jubelnden Armen: „Seit ich mich öffentlich zu meinem Status bekannt habe, fühle ich mich frei und glücklich. Ich lebe positiv“. Auch Francesco lebt positiv. Sie erzählte, wie sie von dem wenigen Geld, das sie verdient, jeden Monat 50 ugandische Schillinge auf die Seite legt für den Transport zur Klinik zum monatlichen Check up und zur Medikamentenausgabe. Die nächste wichtige Ausgabe ist das Schulgeld für die Kinder, für die sie allein aufkommen muss und die eine Zukunft haben sollen. Was übrig bleibt, soll fürs Essen reichen. Sie zeigte mir stolz ihre beiden Memory Books, eines, das sie bereits für ihren Sohn geschrieben hat, und das neue, lösungsorientierte Memory Book, das sie für sich schreibt.
Für die Zukunft planen
Für die „Zukunft planen“ war ein weiterer Übungsblock mit Werkzeugen des lösungsorientierten Ansatzes. Die TeilnehmerInnen wurden aufgefordert, an die Zukunft zu denken und den Satz zu vollenden: „Wenn ich an die Zukunft denke, glaube ich, kann ich… meine Studien vollenden, …gesund und stark bleiben, … hundert Leute in Memory Work ausbilden“. Die TeilnehmerInnen wurden aufgefordert, sich eine Skala von 1 bis 10 vorzustellen. 10 steht für den Augenblick wenn das Ziel erreicht ist. In Zweiergruppen sprachen die TeilnehmerInnen über ihre Ziele und beschrieben möglichst genau die Situation, wie es sein wird, wenn sie Stufe 10 erreicht haben werden. Dann stellten sie sich weiteren lösungsorientierten Fragen: Wo befinden sie sich gerade jetzt auf dieser Skala? Wenn sie sich beispielsweise auf Stufe 5 befinden, wie würde es auf Stufe 6 aussehen? Welche Schritte müssten sie unternehmen, um auf Stufe 6 zu gelangen? Welche eigenen Stärken sind hilfreich für diese Schritte? Mit Hilfe der skalierenden Fragen übten die TeilnehmerInnen möglichst konkret, sich die nächsten Schritte vorzustellen und für die Zukunft zu planen. Erstaunlich viele wählten Ziele in Bezug auf ihr Engagement zur Unterstützung von Menschen, denen es weniger gut geht.
Am Schluss des Workshops hatten alle TeilnehmerInnen ein eigenes Memory Book und jede Organisation einen Plan bis zum 30. September 2012 erarbeitet mit Zielen und konkreten Schritten, wie sie das Gelernte im Rahmen ihrer Organisation umsetzen wollen. Auch diesbezüglich war der Training-of-Trainers-Workshop lösungs- und zukunftsorientiert angelegt. Der Erfolg des Workshops wird sich mit der Umsetzung konkreter lösungsorientierter Memory-Work-Aktivitäten in einem Jahr zeigen.»
Die Autorin: Helena Zweifel ist Koordinatorin von aidsfocus.ch, der schweizerischen Fachplattform HIV/Aids und internationale Zusammenarbeit, und Geschäftsführerin von Medicus Mundi Schweiz, dem Netzwerk Gesundheit für alle.
Helena Zweifel